Scheinwelt und Realität: Wir wollen die Gleichstellung von Frauen gar nicht

Neulich auf Twitter: Eine Lehrerin schreibt, dass ihre Schülerin schon drei Absagen für einen Ausbildungsplatz als Autolackiererin bekommen habe. Nicht etwa mit der Begründung, dass andere Bewerber:innen besser passten, sondern weil der Betrieb für Frauen nicht geeignet sei. Willkommen im Jahr 2022.

Diversität gibt’s nur in Hollywood

Ob nun so offensichtlich wie in diesem Beispiel oder unter dem Deckmantel fadenscheiniger Ausreden: All die Serien auf Netflix, die Diversität predigen (z. B. New Amsterdam) und die vielen Werbebotschaften in den 2020er-Jahren, bilden nicht annähernd die Realität ab. Sie zeigen nämlich, wie Schwarz und Weiß, Bi, Gay und Divers zusammen in den Unternehmen arbeiten, sich lieben und wertschätzen. Ist das am Ende doch alles nur Theater? Was soll ich meiner Tochter in zehn Jahren sagen, wenn sie Elektrikerin, Physikerin, Fahrradmechanikerin oder Lackiererin werden will? „Sorry, Schatz! Die Gesellschaft ist noch nicht so weit.“

Ich bekomme den Eindruck, dass wir es vielmehr mit einem großen Medienablenkungs-Manöver zu tun haben – alles nur, um uns, die weiße, mächtige Mittelschicht zu beruhigen. Denn Hauptsache ist doch, dass wir glauben, es bewege sich alles in die richtige Richtung! Dafür gaukeln uns Medien vor, dass eine Welt ohne Rassismus und Sexismus zum Greifen nahe sei und alle Menschen die gleichen Chancen hätten. Machen wir uns nichts vor: Selbst Frauen, die einen langen Weg im Kampf um Gleichberechtigung hinter sich haben, sind in unserer Gesellschaft noch immer Menschen zweiter Klasse. Woran ich das festmache?

Erstens: Frauen und Verkehrspolitik

Katja Diehl klärt in ihrem wundervollen Buch „Autokorrektur“ auf: Unsere Gesellschaft ignoriert große Teile der Bevölkerung. Verkehrspolitik geht z. B. gegen die Kinder, gegen die Frauen (vor allem gegen Alleinerziehende), gegen Diverse und gegen arme Menschen. So schließt unsere Verkehrspolitik systematisch die Mobilitätswünsche von Kindern aus, die noch nicht Autofahren können – und diskriminiert ihren Wunsch, sorgenfrei und sicher auf Radwegen durch die Stadt zu fahren. Genauso ist es mit dem ärmeren Teil der Bevölkerung, der sich in der Regel gar kein Auto leisten kann. Diese Menschen werden ebenfalls bei der Verkehrsplanung ignoriert – und wir wissen alle insgeheim: In der Regel sind es alleinerziehende Frauen, die nicht das Geld für ein Auto haben. Genau das verschweigen die tollen Serien, die bei uns oft Binge-Watching auslösen.

Zweitens: Frauen und Gehalt

Allen Bemühungen zum Trotz: Der Gender Pay Gap, also die Differenz des durchschnittlichen Bruttogehaltes der Frauen und Männer im Verhältnis, ist noch immer gravierend. In Deutschland verdienten Frauen im Jahr 2020 durchschnittlich 18 % weniger pro Stunde als Männer. So gibt es zwar Initiativen im DACH-Raum, z. B. in Österreich, die sich für Equal Pay stark machen – die Umsetzung in den Betrieben schreitet aber nicht oder nur langsam voran. Meine Tochter wird also sehr wahrscheinlich nicht das gleiche Gehalt bekommen wie ein Mann.

Leider ist es immer noch so, dass Frauen und Männer ungleich entlohnt werden. Aktuell liegt die Einkommensdifferenz in Österreich, der viel zitierte Pay Gap, im Durchschnitt bei 12,7 %. Umgerechnet sind das abgerundet 46 Arbeitstage, die Frauen kostenlos arbeiten, oder anderes ausgedrückt: circa jedes 8. Jahr.

Equal Pay Day

In Deutschland sollte ab 2018 das Entgelttransparenzgesetz dafür sorgen, dass die Gehälter von Frauen und Männern sich annähern. Mehr noch: Es verbietet eine Ungleichheit der Bezahlung aufgrund des Geschlechts. Wer das in der Praxis erlebt, merkt schnell: Hier gibt es viele Schlupflöcher für Unternehmen (wer legt fest, was ein „vergleichbar arbeitender“ Kollege ist und warum müssen mindestens sechs Kolleg:innen den genau gleichen Job ausüben, um überhaupt Auskunft zu bekommen?). Kurz: Die Bemühungen sind eine Farce. Dazu kommt: Die meisten Berufe, in denen überwiegend Frauen arbeiten, werden einfach schlecht bezahlt: Krankenpfleger:innen, Näher:innen, Lehrer:innen, Kindergärtner:innen werden weniger wertgeschätzt als die Bereiche, die männerdominiert sind: Autolackierer:innen, Autoschlosser:innen, Autokarosseriebauer:innen, Spengler:innen, Elektriker:innen, Klempner:innen.

Drittens: Frauen und Berufswünsche

Wir reden großspurig davon, dass sich Mädchen für die technischen MINT-Fächer interessieren sollen. Wollen sie dann einen Ausbildungsplatz in einem dieser Berufe, wird geblockt. Dabei können wir uns das noch nicht mal leisten: Rund 60.000 Azubistellen sind hierzulande unbesetzt. Jeder vierte Azubivertrag wird vor Vertragsende aufgelöst. Noch dazu nimmt die Anzahl der Auszubildenden seit Jahren stetig ab. Noch rund 1,51 Millionen im Jahr 2010, waren es 2020 nur noch ca. 1,29 Millionen.

Fakt ist doch: Immer mehr junge Menschen wollen studieren, eine Ausbildung ist nicht mehr sexy. Also lasst uns doch diejenigen fördern, die sich dafür entscheiden und dafür sorgen, dass wir künftig auch den Handwerksbedarf und andere Dienstleistungen abdecken können – egal, ob Frau, Mann oder divers! Als letztes Jahr mein Haus gebaut wurde, gab es auf unserer Baustelle nicht eine Frau: keine Zimmerfrau, keine Elektrikerin, keine Lichtplanerin, keine Dachdeckerin, keine Fliesenlegerin, keine Malerin, keine Gärtnerin. Und: Die Idee, wie eine Frau zu sein hat, greift leider auch noch viel zu oft ins „Private“ bzw. den Haushalt über. Als den Herren auf dem Bau klar wurde, dass meine Frau als Projektmanagerin bei uns das Sagen hat, schauten sie erst verdutzt – akzeptierten es aber, als sie merkten: Mich brauchen sie zu den Themen des Hauses nicht einmal anzusprechen.

Warum mich das besonders trifft

In meinem Unternehmen fördere ich zwar schon seit Jahren Chancengleichheit – u. a. arbeiten wir mit „100 Prozent – Gleichstellung zahlt sich aus“ zusammen – ich merke aber, dass wir zu den Ausnahmen gehören. Meine Kundenblase und mein Job sind ja nur ein verschwindend kleiner Teil des gesamten Kuchens, ein marginaler Ausschnitt der Arbeitswelt.

Seitdem meine Tochter auf der Welt ist, mache ich mir noch mehr Gedanken. Sie wächst in einer der aufgeklärtesten Gesellschaften auf und doch wird sie ihr Leben lang nicht die gleichen Chancen haben wie ich als Mann. Es wird keine Rolle spielen, ob ich ihr die beste Ausbildung bezahle. Denn schon jetzt im Kindergarten ignorieren die Jungs einfach ihre Haltung, obwohl sie für ihre Meinungen einsteht. Die stereotypen Geschlechterrollen werden dort nur noch angeheizt – aber auch in fast jeder anderen Umgebung, in denen Kinder zusammentreffen. Und die Mütter der Jungs stehen oft herum und greifen nicht ein, wie ich letztens auf dem Kinderspielplatz erleben musste.

Wie lassen wir Serien nun wahr werden?

Weder sind die Aufgaben auf einer Baustelle für Frauen zu schwer (es gibt Frauen, die sich trefflich in CrossFit-Wettbewerben beweisen, und locker 95% von uns Couch Potatoes in puncto Kraft und Ausdauer in den Schatten stellen), noch sind Frauen per se für handwerkliche Berufe ungeeignet.

Ein erster Schritt wäre, uns einzugestehen, dass wir, weder Frauen noch die Männer, die Gleichstellung der Frau wirklich wollen. Ja – sie steht in den Gesetzbüchern, Politiker beschwören sie immer wieder (hier meine ich wirklich die Männer, deshalb ist das nicht gegendert). Aber keiner setzt sie konsequent um.

Unsere Politiker verlangen Frauen in Aufsichtsräten der großen Konzerne, doch die Lebenswirklichkeit von uns allen findet doch gar nicht in diesen Elfenbeintürmen der Wirtschaft statt. Die Wirklichkeit der Menschen findet in den vielen kleinen Betrieben statt. Dort gibt es keine Gleichheit. Junge Frauen finden keinen Ausbildungsplatz, weil es die Unternehmer, die Firmeneigner nicht wollen. Diese wunderbaren Geschichten von Netflix, Disney, Amazon und Co., entstanden in der Fantasiewelt der Drehbuchautor:innen, sind eben nicht aus dem Leben gegriffen. Sie zeigen ein Zerrbild, das bar jeder Wirklichkeit ist. Eines, das uns glauben lässt, wir wären bereits so aufgeklärt und hätten alles im Griff.

Unser Weg muss sein, endlich offen darüber zu reden, statt ständig wegzuschauen. Das will ich für meine Tochter und für jedes andere Mädchen und jede Frau in unseren wunderbaren Ländern: echte Gleichbehandlung, gleiche Chancen und ehrlich gemeinte Augenhöhe.


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