Literatur deckt die sozialen Verhältnisse der Gegenwart schonungslos auf – oft in einer Weise, die den Spiegel zwar so vorhält, dass er schmerzhaft ist, aber nicht schmerzhaft genug, um den Verfasser sofort anzuklagen. Posthum werden diese Gesellschaftskritiker:innen oft zu Nobelpreisträger:innen für Literatur. Wäre ich Thomas Mann oder Kierkegaard, könnte ich die folgenden Gedanken also in Form eines wunderbaren Buches verfassen: Die Beschäftigung mit dem Thema Schule, Schulpflicht, die Klimakrise und auch die Pandemie zeigen für mich immer deutlicher, dass wir hierzulande als Gesellschaft nicht etwa die Interessen der Kinder im Blick haben, sondern offenbar nur die Interessen des Establishments. Sprich: die Interessen der alten Generation.
Die Bedürfnisse der Kinder zählen nicht
“Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt”, sagt unser Grundgesetz. Doch offensichtlich geht es um die Würde, den Wohlstand und die Interessen der jeweils Mächtigeren. Kinder werden staatlich mit Polizeigewalt “gezwungen”, in die Schule zu gehen. Wir stützen mit den ersten Impfungen die alte Bevölkerung. Doch wir sorgen nicht dafür, dass Kinder in den Schulen geschützt werden und in den Elternhäusern keine Gewalt erfahren. Darüber hinaus sind unsere Sozialversicherungssysteme nach wie vor auf der Idee aufgebaut, dass die Jungen den Wohlstand der Alten sichern sollen. Gleichzeitig schwinden ihre eigenen Chancen auf eine solide Rente im Alter gewaltig.
Der Tenor ist klar: Die Interessen von Kindern stehen für „die Gesellschaft“ nicht im Fokus. So benutzten schon die Habsburger im 16. Jahrhundert ihre Kinder als „Objekte“, um ihre politischen Interessen durchzusetzen. Heute bleiben Firmen-Patriarche oft noch bis ins hohe Alter in ihren Unternehmen und reden ihren Kindern selbst dann noch in die Geschäfte hinein, wenn sie nicht mehr überblicken, was genau passiert.
Unser Schulsystem bildet die Kids nicht für ein nach ihren Interessen gesteuertes Leben aus: Sie dürfen nicht lernen, was sie interessiert, sondern das, was Kultusminister:innen für richtig halten. Diese sind bekanntlich von einer Elterngeneration beeinflusst, die mit ihren Unternehmen den Entwicklungen hinterherhinken. Daraus entstehen solche Ideen wie der MINT-Hype, der in einer KI-basierten Welt einerseits sinnvoll sein mag. Gleichzeitig lernen wir von den Arbeitswissenschaftler:innen, dass wohl Berufe in der Pflege höhere Zukunftschancen haben werden als der nächste Ingenieur. Oder das G8 wird im Interesse der Alten eingeführt, damit die Kids früher in die Sozialversicherung einzahlen können – und wir die Renten so stützen, wie mir ein bekannter Professor einmal in einem Interview erklärte.
Der Staat schützt „Familien“ ohne die zugehörigen Kinder
Auch beim Thema „Eigentum“ bestehen eklatante Defizite: Als ich vor 20 Jahren das erste Mal hörte, dass Schenkungen besteuert werden, war ich verblüfft. Warum müssen Eltern das Geld, das sie in der Regel sowieso für ihre Kinder erwirtschaften, zusätzlich versteuern, wenn sie ihnen etwas abgeben? Erst jetzt wird mir klar: Das ist verrückt. Warum gehört den Kindern nicht von Anfang an mein Eigentum? In Deutschland gibt es die Idee der Zugewinngemeinschaft – aus meiner Sicht eine geniale Erfindung – um insbesondere Frauen zu schützen, die ihrer Erwerbstätigkeit aufgrund von Erziehung der Kinder nicht nachkommen konnten. So stehen sie nach einer Trennung nicht mittellos da.
Doch wieso greift für Kinder nicht das gleiche Prinzip? Warum gehört alles, was ich finanziell erwirtschafte, nicht automatisch allen in der Familie? Dieser Gedanke setzt sich im Erbrecht fort: Kinder erben nur bis zu einem bestimmten Freibetrag steuerfrei. Gleichzeitig gibt es den Pflichtteil, also den Betrag, der dem Kind automatisch zusteht. Bedeutet das nicht paradoxerweise, dass den Kindern das Geld der Eltern doch gehört? Mein Vorschlag: Das Eigentum, das in einer Familie besteht oder erwirtschaftet wird, gehört konsequent allen in der Familie. Klar: Auch dann gäbe es Konflikte, doch an die Kinder wäre gedacht.
Ab welchem Alter ist der Mensch mündig für die Wahl?
Neben dem Eigentum ist das Wahlrecht der zweite Eckpfeiler von Demokratie und Wirtschaft. Doch bisher ist dieses lediglich den Erwachsenen vorbehalten. Aktuell hat eine Familie mit vier Kindern die gleiche politische Macht wie eine Familie ohne Kinder. Warum haben also nicht schon Kinder ein Recht darauf, zu wählen? Immerhin trauen wir ihnen auch schon mit etwa 15 Jahren eine Berufswahl zu. Wie wäre es, wenn wir das berechtigte Wahlalter also vorziehen? Oder noch konsequenter: Warum nicht gleich Babys eine politische Stimme geben, die bis dato keinerlei Stimmrecht haben? Eltern könnten ihre Kinder zunächst in ihren Interessen vertreten. Das wäre nur fair.
Ich würde sogar so weit gehen, den über 70-Jährigen das aktive Wahlrecht zu entziehen. Diese haben mit ihrer Stimme einen großen Einfluss auf das Leben der Jüngeren. Können sie so fair entscheiden, dass sie immer auch deren Interessen im Blick haben, also zukunftsgewandt wählen? Zugegeben: Dieser Gedanke ist extrem, doch Philosoph:innen dürfen ja auch mal die Edge-Cases betrachten. Und der Widerstand gegen einen solchen Gedanken hilft in der Regel dabei, das eigene Interesse zu erkunden. Es ist nicht notwendig, den Gedanken zu exekutieren. Aber vielleicht kommen wir so darauf, wofür wir wirklich als Gesellschaft einstehen: Der Erhalt des Status quo und damit konsequent der Schutz des Establishments auf Kosten der Kinder. Oder wollen wir doch die Veränderung für die Zukunft unserer Kinder?
Nehmen wir unser Grundgesetz und unseren Anspruch ernst, dass wir alles für unsere Kinder tun und dass sie die gleichen Rechte (und Pflichten) haben wie wir Erwachsenen (= über 18-Jährige), dann müssen wir ihnen auch ein uneingeschränktes Mitsprache- und Eigentumsrecht einräumen. Das bedingt eine neue Haltung in der Frage, wie wir über unsere Kinder denken. Dann werden sie nicht nur Objekte in einem politischen und wirtschaftlichen System, in der Schule und vielen anderen Institutionen, sondern zu Subjekten und handelnden Akteuren – die diese Institutionen aktiv beeinflussen und mitgestalten könnten.
Es wäre dann die Pflicht des Staates, für Institutionen zu sorgen, die diese Rechte für die Kinder durchsetzen – gegen die Interessen der Erwachsenen und Herrschenden und am Ende damit auch im Interesse der Herrschenden. Denn nur und ausschließlich durch die nächste Generation, also unsere Kinder, ist die Zukunft gesichert.
Auch wenn vieles davon leider (noch) keine Realität ist: Machen wir doch die nächste Bundestagswahl zu einer im Interesse der Jüngsten, wählen konsequent für die Zukunft und ihren Wohlstand und stecken unsere eigenen Interessen hintan.
Titelbild: Artur Aldyrkhanov, Unsplash