Lasst euch nicht unterkriegen!

Um 2005 herum, ich bin mir aber nicht mehr sicher, wurden innerhalb der kleinen Gemeinschaft der Wissenden, die ersten War Stories von agilen Projekten erzählt. Wir erfuhren, dass Mike Cohn von einem Projekt geflogen war, und es sickerte so langsam die Erkenntnis durch, dass alle Scrum Evangelisten der damaligen Zeit, nach ersten Erfolgen von ihren Arbeitgeber:innen rausgeworfen worden waren.

Diese Frauen und Männer waren deswegen nicht weniger von ihren Ideen über Scrum und agile Softwareentwicklung überzeugt. Nein! Sie waren sogar noch mehr davon beseelt, ihre Ideen umzusetzen. Viele von ihnen wurden sehr erfolgreiche Trainer:innen und Coaches. Ken Schwaber gründete gleich zwei Organisationen: die Scrum Alliance und die Scrum.org. Nicht zuletzt, um Scrum in die Welt zu bringen und nebenbei auch wirtschaftlich sehr erfolgreich zu sein. Jeff Sutherland baute seine Firma, Mike Cohn, Tobias Mayer und Stacia Heimgartners … viele Firmen entstanden damals vor allem in den USA und Skandinavien.

Keiner von diesen Evangelist:innen glaubte zu Anfang daran, dass sie Wirtschaftsgeschichte schreiben würden. Doch sie taten es.
Heute wollen große Konzerne und die große Mittelständler auf der ganzen Welt agiles Management einführen. Allerdings nennt es sich mittlerweile oft New Work oder Beyond Agile oder Humanocracy (Gary Hammels gigantisches Buch, darf hier nicht vergessen werden.) Alle führen Scrum, Kanban, LeSS oder SAFe ein, oder machen auf ihre Art die ersten oder manchmal auch bereits die nachfolgenden Schritte.

Doch natürlich klaffen Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander.

2001 und später bis 2008/9 war das eigentlich gar kein Problem. Wir wussten alle, dass wir die Welt nicht auf einmal aus den Angeln heben würden, und wir hatten es auch damals nicht vor. Waren viele von uns doch froh, überhaupt ein Projekt, einen Auftrag oder einen Workshop zu bekommen. Wir waren ja alle noch am Lernen. Doch so ab 2010 begann sich die Waage in Richtung agiles Arbeiten zu wenden. Es wurde plötzlich in einigen Bereichen en Vogue und zumindest die großen Software-Abteilungen hatten nun agil zu sein. Und ja – machen wir uns nichts vor, noch immer beginnen agile und digitale Transformationen fast immer in der IT. Das ist auch folgerichtig, gehören doch agiles Management und digitale Transformation zusammen. Und so gut wie nie – seien wir ehrlich – sind agile Arbeitsformen vollständig so angewandt worden, wie man es tatsächlich umsetzen könnte. Es gibt tolle Beispiel und Leuchttürme, doch flächendeckend – Business und IT zusammen, oder dass ganze Firmenteile wirklich miteinander selbstorganisiert und selbstbestimmt arbeiten – das gab es damals kaum und auch heute gibt es nur einige Ausnahmen von dieser Regel. Das wäre auch nicht schlimm, wenn wir nicht in den Unternehmen große Events mit mehreren 100 Kolleg:innen durchführten in denen sich die interne agile Community trifft und daran glaubt das Unternehmen verändern zu können.

Wir reden dann miteinander, lernen neue coole Tools kennen, bestätigen auch den eigenen Weg – und das zu Recht. Doch oft hört man in den Gesprächen am Gang die Enttäuschung: Es ginge nicht schnell genug. Noch immer gibt es viel zu viele Führungskräfte, die nicht mitziehen und vieles mehr. Es wird oft über viel Widerstand gesprochen und dass der Change so schwer sei, die Kultur müsse verändert werden und die Führung müsse mitwirken. Wie auch schon vor einer Dekade auf den Scrum Gatherings und agile Konferenzen kommt dann immer die ernüchternde Einsicht: Das Upper Management muss mitziehen, wenn sich etwas bewegen soll.

Kurt Nielsen beschreibt es in einem wunderbaren Artikel: The challenge of the traditional hierachy:

“Organizations have become stratified micro societies, where downstairs, those who operate in the value stream, work and talk together. Upstairs in the organizational aristocracy, they speak a different language of planning, budgets and steering committees. They rarely interact in any dynamic fashion but are only seen respectively as constraints you have to work with but do not necessarily understand.”

Die Teams auf der Arbeitsebene reden miteinander, währenddessen sich deren Wirklichkeit mehr und mehr von der des Managements, das vermeintlich glaubt immer noch kontrolliert, unterscheidet.

Jetzt wäre Mut gefragt.

Der Mut in den Konflikt zu gehen. Diesen auch auszuhalten und nicht aufzugeben. Auszuhalten in dem Sinne, dass es dauern kann, bis überhaupt die Bereitschaft bei allen da ist miteinander zu reden. Auszuhalten, dass die Organisation selbst Zeit braucht zu verstehen, was da gerade passiert. Und den Mut – weiterzumachen, dranzubleiben und nicht aufzugeben – denn die Konflikte sind vorprogrammiert; geht es bei dem ganzen Transformationsgerede ja nie um die agile Business-Transformation. Es geht darum agile Arbeitstechniken, agile Managementformen und ja – auch agile Haltungen – zu nutzen und am Ende auch zu verinnerlichen, um dem Zeitgeist Rechnung zu tragen, um wettbewerbsfähig zu sein und ein attraktiver Arbeitgeber zu bleiben.

Der Druck auf die Unternehmen steigt – ob es das Upper- und Middle Management wahrhaben will oder nicht. Wir stehen vor der größten gesellschaftlichen und ökonomischen Umwälzung seit der Industriellen Revolution. Der Umbau unser Wirtschaft zu einer regenerativen und Biodiversität erhaltenden, die dabei auch noch sozial gerecht sein wird und den Wohlstand erhöht, ist eine Aufgabe, die alle Unternehmen vor Aufgaben stellen wird, die wir alle in ihrer Tragweite noch gar nicht absehen können.
Das gilt sogar für die Unternehmen, die als Vorreiter dieser Entwicklung dienen, also die Waschbären, Einhörner und GLS Banken. Denn auch die basieren ja ihren Erfolg auf dem traditionellen Wirtschaftssystem. Die meisten von Ihnen sind selbst sogar noch so gebaut und strukturiert, wie es uns die BWL-Lehrbücher seit mehr als 100 Jahren erklären.

Und das ist jetzt keine Kritik, sondern zeigt die Entwicklungsmöglichkeiten für all diese Organisationen. So sehr auch sie schon Purpose-Unternehmen sein mögen – das reicht am Ende nicht, wenn diese Organisationen ihre Mitarbeiter:innen doch immer wieder an die Kette legen, oder Entscheidungen doch nicht von jenen getroffen werden, die die Arbeit machen.

Wir müssen die Wirtschaft umbauen.

Der Druck von außen wächst (durch die Gas- und Energieknappheit für die Wirtschaft, die schwindenden Fischreserven in den Weltmeeren, von ganzen Inseln die verschwinden werden ganz zu schweigen … um nur wenige zu nennen)  und gleichzeitig wächst die Arbeit, vor der wir stehen. Was ja für jeden offensichtlich sein sollte: Wir müssen die Wirtschaft umbauen und dazu benötigten wir Menschen – und die, die noch in traditionellen Industrien, wie der Petrochemie arbeiten – müssen umgeschult werden. Gleichzeitig schwindet die arbeitsfähige Bevölkerung in den entwickelten Staaten, da unsere westlichen Gesellschaften überaltern (das gilt dank der Ein-Kind-Politik Chinas übrigens ganz gravierend auch für China.)

Die logische Konsequenz ist, wir müssen alles, aber auch alles automatisieren, wenn wir weiter Produktivitätssteigerungen realisieren wollen – und auf eine Energiequelle setzen, die tatsächlich so gut wie kostenfrei ist und die Umwelt so wenig wie möglich belastet: Solar- und. Windenergie.

All das geht nur, wenn wir aufhören Menschen durch unser mittlerweile katastrophal schlechtes Bildungssystem auszusieben – und ihnen ständig das Gefühl zu geben sie sind nichts wert, weil sie völlig sinnfreie Anforderungen von Kultusministerien erfüllen sollen. Und sie dann auch noch zu entwerten, in dem man ihnen sagt, all das was sie erreicht haben wäre nichts wert: Es müsse endlich das Leistungsprinzip in die Schule zurückkehren. Es ist absurd! Das System erzeugt nicht das was gebraucht wird, aber die, die etwas ändern könnten hängen an ihm, wie Ertrinkende am Schwimmreifen.

Wir werden den Fachkräftemangel nicht dadurch lösen, nach Fachkräften zu schreien, wenn wir Fachkräfte weiterhin als Bürger:innen zweiter Klasse behandeln und alle Studierende Manager:innen werden wollen, weil die Gesellschaft uns ständig sagt, lernt noch mehr, geht noch länger zu Schule, die euch auf nichts vorbereitet, als aufs sinnlose Auswendiglernen.
Unternehmen werden selbst ausbilden müssen, und zwar im ganz großen Stil und sei es nur um ein wichtiger Arbeitgeber zu bleiben und sie werden mit neuen Arbeitsbedingungen kontern müssen. Wir sehen es in den Krankenhäusern und Pflegeheimen. Was nützt den das viele Geld, dass einige Renter:innen haben, wenn es keine Pfleger:innen mehr gibt?

Die Herausforderungen, vor denen wir in den westlichen Industriegesellschaften stehen sind offensichtlich – doch alles was gerade die Politik beherrscht und Bürger:innen den Kanzler fragen ist, ob sie einen Zuschuss für die Energiekosten bekommen. Keiner stellt die Frage, wie es eigentlich sein kann, dass sich Leute in der reichsten Industrienation Europas fragen müssen, ob sie die Stromrechnung zahlen können.

Wie kann das sein? Dass wir Rentner:innen haben, die Angst haben im Winter im Dunkeln und im Kalten zu sitzen. Ich meine nicht, weil faktisch vielleicht wirklich kein Gas da ist, sondern weil sie es sich nicht mehr leisten können. Wie kann es sein, dass wir Kinder haben, deren Eltern sich das Gas vielleicht nicht mehr leisten können werden, wie kann es sein, dass wir darüber nicht reden? Während die Wirtschaftselite – und ich gönne es ihnen – fulminante Feste feiern kann. Sollen sie und wir alle würden es ihnen gönnen, wenn wir dies Fragen nicht stellen müssten.

Und genau, weil wir dafür sorgen müssen, dass wir diesen Umbau hinbekommen, weil wir diesen Kindern Chancen eröffnen müssen, weil wir ihnen die Natur erhalten müssen, weil wir ein verdammte Verpflichtung haben eine enkeltaugliche Gesellschaft zu entwickeln, die nicht nur die Wirtschaftselite ein Leben in Saus und Braus ermöglicht, genau deshalb dürfen wir uns agile Consultants in den Firmen nicht unterkriegen lassen.

 

Wir müssen weiterhin unsere Kraft dafür einsetzen funktionale Organisationen zu schaffen, die Menschen ein würdiges Leben bei besten Lebensstandard ermöglichen.

Foto: canva.com/pro