Auf der Reise ins Land des gemeinschaftsbasierten Wirtschaftens bin ich diese Woche auf einen fundamentalen Satz gestoßen, von dem ich selbst schon lange überzeugt bin:
Organisationen sind an sich Lernräume.
Ist deine Organisation schon ein Lernraum?
Auch wenn ich borisgloger consulting nie so bezeichnet hatte, war die Firma von Anfang an als Experiment gedacht. Ich wollte herausfinden, wie eine Organisation aussehen kann, in der sich Menschen wohlfühlen, in der wir gemeinsam ständig lernen und daran arbeiten, agiles Arbeiten selbst zu erleben, damit wir es anderen zeigen können. Ich würde heute im 12. Jahr sagen, dass es gelungen ist, diesen Raum für derzeit fast 80 Personen zu erschaffen. (Davon zeugen auch zahlreiche Beiträge meiner Kolleg:innen.)
Ich stimme Timo Wans, Gründer von MYZELIUM, dem Ökosystem für gemeinschaftsbasierte Unternehmer:innen, also vollkommen zu. Er postuliert, dass wir Organisationen brauchen, die selbst zu Orten werden, in denen Lernen stattfindet. Doch was ist Lernen? Besteht Lernen aus reiner Wissensvermittlung? Sicher nicht. Lernen funktioniert nur in Gemeinschaften, sagt Gerald Hüther unentwegt.
„Es wäre günstig, wenn Kinder sich in der Schule gesehen fühlten, wenn man ihnen etwas zutrauen und ihnen Aufgaben geben würde, an denen sie wachsen können. Es wäre auch günstig, wenn Schüler in der Schule die Erfahrung machen könnten, wie schön es ist, wenn sie sich gemeinsam um etwas kümmern könnten. […] Die Vermittlung von Wissen ist nicht mehr das, worauf es ankommt.“
Gerald Hüther im Gespräch mit dem Standard
Es geht also darum, dass wir miteinander Erfahrungen machen und uns gegenseitig dabei helfen, diese Erfahrungen zu machen. In einem Podcast-Interview, in dem Timo Wans erklärt, wie gemeinschaftsbasiertes Wirtschaften funktioniert, sagt er im Grunde das Gleiche: Beginne, Menschen dabei zu unterstützen, es anders zu machen, damit diese Menschen dir helfen können, es anders zu machen.
Wer verstehen will, muss ausprobieren
Zu verstehen, wie gemeinschaftsbasiertes Wirtschaften funktioniert, ist dem Erlernen von agilem Management sehr ähnlich. Zu verstehen, was Agilität ausmacht, ist nur wirklich möglich, wenn sich Menschen in Organisationen, als Team oder als Verein gemeinsam auf den Weg machen. Durch dieses Selbst-Ausprobieren und Miteinander-, Voneinander-, aber auch Aneinander-Lernen und Erleben entstehen neue Erfahrungen. Am Ende entstehen neue Überzeugungen darüber, wie es auch anders als bisher gehen kann.
Mein Prinzip „Doing as a Way of Thinking“ veranlasst mich dazu, solidarisches Wirtschaften durch praktische Anschauung verstehen zu wollen. Deshalb mache ich den Solawi-Selbstversuch. Mehr dazu in „Meine persönliche Agrarwende – ein Selbstversuch (Woche 5/52)“ und „Die Ernährungssouveränität kommt im Kisterl – ein Selbstversuch (Woche 6/52)“. Wie wird der klassische Markt, von dem ich bis dato, wie viele von uns, annahm, er sei gegeben, durch ein Wirtschaften in gegenseitiger Verantwortungsübernahme, durch ein Miteinander statt Konkurrenz ersetzt? Denkt man diese Gemeinschaft als einen Organisationsraum, dann spielen sich in diesem Raum Lernerfahrungen ab: „Organisationen werden zu Räumen, in denen Utopien umgesetzt werden können“, sagt Timo Wans im selben Podcast-Gespräch.
Eine neue Wirtschaft braucht mehr Modelle dazu, wie Wirtschaft funktionieren kann
Aber warum sollten wir uns überhaupt die Mühe machen, ein neues Wirtschaften zu erlernen? Die einfache Antwort: Wir brauchen mehr Wahlmöglichkeiten. Die meisten von uns sind Kinder der Postmoderne, leben in Städten und wissen nicht, dass es neben dem Markt und der kapitalistischen Ökonomie noch alternative Wirtschaftsmodelle gibt. Wir können uns gar nicht vorstellen, dass Wirtschaften nichts mit Wettbewerbsdruck zu tun haben muss. Dass nicht die unsichtbare Hand des Marktes wirken muss.
Aber ist es bei näherem Hinsehen nicht verrückt, zu glauben, das Wirtschaftsmodell, das in den Textbüchern der VWL-Vorlesungen steht, sei das einzig mögliche? Dass es nur darum gehe, das Bruttoinlandsprodukt ständig zu erhöhen? Die gegenwärtige Wirtschaft blendet wichtige Leistungen systematisch aus. Dazu gehören u. a. die Care-Arbeit – also das Produktivmachen der Menschen durch Haushaltstätigkeiten wie Wäsche waschen, Essen zubereiten, das Pflegen von Menschen – und das Nutzen der Umwelt als Systemleistung. Darüber hinaus macht u. a. Kate Raworth in „Doughnut Economics“ deutlich, dass auch die Nutzung von Energie im klassischen Verständnis der Ökonom:innen nicht vorkommt.
Traditionelles Wirtschaften ist per se Ausbeutung
Um es deutlich zu sagen: Das traditionelle Wirtschaftsdenken blendet vollkommen aus, dass es in ein Umfeld eingebunden ist, ohne dass es gar nicht funktionieren kann. Eine marktbasierte Wirtschaft benötigt einen Staat, der Märkte sichert und damit zulässt. Regulierungen eines Marktes gehören zum Markt dazu, sie behindern ihn nicht. Care-Arbeit wird benötigt, damit Menschen zur Arbeit gehen können. Eine Gesellschaft muss sich überlegen, wie sie die Energie bereitstellt, damit Wirtschaften funktioniert. Und das Perverseste an unserem Wirtschaften: Die Grundlage dafür, dass wir Güter erzeugen können, besteht etwa in der Landwirtschaft darin, dass wir Boden haben und es u. a. Bienen gibt. Und bei fast allen anderen Gütern, dass es Rohstoffe gibt, die wir nur abbauen müssen. Ohne die ist nichts mit Wirtschaften.
Traditionelles Wirtschaften beutet also per se aus. Es zieht Wert von seinen Quellen ab, um ihn im Markt zu vermarkten, tut aber nichts dafür, um diese Quellen zu erhalten. Unser vorherrschendes Wirtschaftsmodell verabsäumt sogar, Wesentliches einzubeziehen: dass es ohne stete Energiezufuhr (nämlich der der Sonne) nicht laufen kann. Es fließen keine Geldströme mehr, wenn es keine Energie gibt. Wir nutzen die Sonne ständig, ohne uns darüber im Klaren zu sein. Nein, ich rede nicht von der direkten Nutzung der Sonnenenergie durch die PV-Anlagen. Wer macht sich schon klar, dass wir Dünger aus Erdgas (alter Sonnenenergie) machen oder das unsere künstliche Intelligenz in Zukunft Gigawatt an Strom benötigen wird?
Wir alle folgen der Textbuch-Ökonomie in Form der Wirtschaftsnachrichten. Diese stellt aber nicht nur einen sehr kleinen Ausschnitt dessen dar, was wir sehen – sie ist ohne all das Drumherum gar nicht denkbar. So formuliert es Kate Raworth:
“The vast majority of energy that powers today’s global economy is from the sun. Some of that solar energy, such as sunshine and wind, arrives in real time each day. Some has been stored in recent times, like the energy bound up in crops, livestock and trees.”
Kate Raworth in „Doughnut Economics“, S. 65 in der Random-House-Kindle-Version
Ich halte dies für eine absolut treffende Beschreibung.
Ein gelingendes Modell: Wirtschaften auf Beziehungen aufbauen
Was ist nun die Alternative? Alles einberechnen, was die klassischen Ökonom:innen gerade ausklammern? Also noch mehr Gesetzmäßigkeiten dafür festlegen, woraus sich Preise zusammensetzen müss(t)en und das Ganze noch komplizierter machen? Ich probiere es von der anderen Seite: Anstatt eine Wirtschaft zurechtzubiegen, die nicht zu dem passt, was ich mir für die Welt meiner Kinder wünsche, suche ich nach einer Wirtschaftsweise, die das möglicherweise leisten kann. Mit Prinzipien wie: Wirtschaften auf gelingenden Beziehungen statt auf Ausbeutung basieren lassen. Transparenz und Ehrlichkeit als die Grundlage sehen für Organisationen, sodass diese ihrem Ökosystem, also ihren Mitgliedern, zeigen können, was sie brauchen.
So werden diese Organisationen Menschen finden, die diese Transparenz und Ehrlichkeit schätzen und bereit sind, sie als Mitglieder zu fördern. Diese Mitglieder wollen nicht nur am Ergebnis partizipieren, sondern auch dabei mitwirken, dass diese Organisationen das von ihnen gewünschte Ergebnis produzieren. Solche Organisationen gibt es schon: neben den Solawis, wie Ouvertura in Moosbrunn, sind das die von ihnen inspirierten Organisationen wie der Coworking-Space „Franz Werk“ in Tübingen oder die wunderbare Organisation Sustainable Thinking, mitgegründet von Sina Wans (siehe dazu die Podcast-Folge mit ihr: „Nachhaltigkeitsziele gemeinschaftlich erreichen“).
Wirtschaften war vor dem Markt
Augenöffnend war für mich eine unverfängliche Frage von Timo Wans: Was war vor dem Markt? Gab es eine Ökonomie vor der Ökonomie? Die Antwort ist: Natürlich. Die Menschen in Dörfern und Gemeinschaften haben auch vor dem Markt dafür gesorgt, dass sie sich gegenseitig versorgen können. Bei mir hat es mit diesem Bild Klick gemacht und das Lesen von Raworths „Doughnut Economics“ hat diesen Klick vertieft.
Wir haben das Bild eines Marktes, das in der jetzigen Form gerade mal ein paar hundert Jahre alt ist. Und nur weil die Ökonom:innen Theorien aus den späten 1940-ern hinterherhecheln, müssen wir doch nicht bei diesem Bild der Wirtschaft bleiben. Nein – wir müssen es sogar umdrehen. Jetzt ganz bewusst. Denn dieses Wirtschaften, dass auf der Externalisierung der Kosten, die es verursacht, beruht, zerstört das Raumschiff Erde. Was wir alle wissen, auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen.
Eine wunderbare Grafik zeigt den Doughnut, basierend auf der Idee von Raworths. Die beiden grünen Ringe begrenzen den Wirtschaftsraum. Der grüne innere Kreis steht für die sozialen Bedürfnisse, die wir als Gesellschaft haben: Energie, Nahrung, Gesundheit etc. Der äußere Kreis zeigt die planetaren Grenzen unseres Ökosystems. Die roten Bereiche im Inneren zeigen an, dass es bei der Befriedigung der sozialen Bedürfnisse zu Mängeln kommt: Nahrungsmittelknappheit oder dass weite Teile der Erdbevölkerung keinen Zugang zu einem funktionierenden Gesundheitssystem haben. Die äußeren roten Bereiche zeigen, wie sehr wir unsere planetaren Grenzen überschreiten. Das ist gut zu sehen am Bereich des Klimawandels und – was noch viel wichtiger für uns als Gesellschaft werden wird – an der Rate, in der wir andere Arten killen. Frauke Fischer sagt es immer wieder: Der Klimawandel bedroht die Art und Weise, wie wir leben, der Biodiversitätsverlust, ob wir überleben werden.
Bildquelle: The Lancet “Shortfalls and overshoot in the Doughnut” Lizenz: CC BY 4.0
Ist eine andere Wirtschaft eine Utopie von Spinnern?
Die, die es sehen, haben Angst. Das nennt sich u. a. Eco Anxiety. Ein überwältigendes Gefühl. Wer diese Grafik wirklich intensiv auf sich wirken lässt, der muss es auch mit der Angst zu tun bekommen. Ein Ausdruck davon ist der offene Protest wie der der Aktivist:innen „Aufstand der letzten Generation“. Sie machen in diesen Tagen von sich reden, weil sie uns alle darauf hinweisen wollen. Wieder ist die Aufregung groß, doch nicht, weil uns endlich klar wird, dass wir etwas tun müssen. Die Medienberichterstattung erklärt unentwegt, wie unbequem das jetzt ist und wie sehr sich die Autofahrer:innen darüber aufregen, dass sie nicht rechtzeitig zur Arbeit kommen.
Es ist offensichtlich: Wer des Deutschen liebstes Kind – das Auto – am ungehinderten Fahren stört, sei es durch diese Aktionen oder die Forderungen nach einem Tempolimit, von dem wir alle profitieren würden – akut, da weniger Tod, und für die Zukunft, da der C02-Ausstoß reduziert wird –, der wird sofort diffamiert und angegriffen. Das verlangt unser derzeitiges Wirtschaftssystem, in dem wir alle Konsument:innen sind und das uns dabei sehenden Auges in die Katastrophe schickt. Die Aktivist:innen wollen uns nur endlich wachrütteln. Ihre Argumente sind stichhaltig, wie wir seit der Flutkatastrophe im Ahrtal wissen:
„Die massiven Störungen im Hafen sind nichts im Vergleich zu Störungen durch Fluten, Dürren, Essensknappheit. Es ist unsere Pflicht, gegen eine todbringende Politik Widerstand zu leisten.“
Tweet der Aktivist:innen, Quelle: dieser Artikel der Süddeutschen Zeitung
Wir wissen es doch alle bereits. Lasst uns doch endlich im Rahmen unserer Möglichkeiten handeln. Doch der Ausweg ist eben nicht die Verteufelung des Kapitalismus, sondern die Beschäftigung damit, wie Wirtschaft anders funktionieren könnte. Wie können wir zeigen, dass wir auch eine Wirtschaft bauen könnten, die nicht alle Kosten externalisiert, die in den Grenzen des Planeten agiert und dennoch alle sozialen Bedürfnisse (schaut noch einmal auf die Grafik) erfüllt und unser aller Wohlstand, auch den in den Entwicklungsländern, dramatisch verbessert? Das ist doch die Frage.
Was mache ich nun? Was heißt das für meine Unternehmen?
Ich kann euch sagen, in meinem Kopf ratterten diese Woche die Zahnräder: Welche Implikationen hat das oben geschriebene für mich selbst, die von mir gegründeten Firmen? Können wir das Prinzip der solidarischen Wirtschaft dort auch anwenden, wie weit lässt sich das noch treiben?
Meine Suppe aus dem Kisterl von Ouvertura essend, denke ich auch darüber nach, wie ich meine Solawi noch weiterbringen kann. Bewirke ich etwas mit dem Schreiben dieses Textes für unseren Verein, schaut ihr euch dadurch die Website von Ouvertura oder anderen Solawis in eurer Nähe (eine Übersicht der Solawis in Österreich findet ihr hier) an. Oder geht ihr deswegen, solltet ihr in Tübingen sein, mal beim Franz Werk vorbei? Es wäre auf jeden Fall großartig, wenn wir in Zukunft noch viel mehr wären, die sich mit alternativen Wirtschaftsweisen auseinandersetzen. Und dabei ihre eigenen Erfahrungen machen, dass die Wirtschaft nicht so funktionieren muss, wie uns die Textbücher der Ökonom:innen noch immer vorgaukeln. Wir müssen handeln, denn sonst glauben auch unsere Kinder den Quatsch aus den 1850-er-Jahren:
„But these citizens of 2050 are being taught an economic mindset that is rooted in the textbooks of 1950, which in turn are rooted in the theories of 1850.”
Kate Raworth in „Doughnut Economics“, S. 7 in der Random-House-Kindle-Version
Das Qlab wird auf jeden Fall Teil von MYZELIUM. Ich werde die Ideen von Timo Wans als Business Angel unterstützen. Wir denken gerade über eine Form der aktiven Mitarbeit von mir beim MYZELIUM nach. Auf anderen Gebieten sind wir dabei, die Biodiversität zu erhalten. So werden wir eine Streuobstwiese pflanzen und erhalten, wie euch meine Kollegin Helene Valadon diese Woche erzählte. Das Ziel ist klar: Selbst Erfahrungen machen, um den eigenen Horizont zu erweitern und nicht mehr zu glauben, was die alte Denkschule für richtig erklärt.
Nächste Woche erzähle ich euch mehr darüber, was beim Gestaltungstreffen von Ouvertura passiert ist und was ich konkret einbringen und lernen konnte.
Die Reihe
- Meine persönliche Agrarwende – ein Selbstversuch (Woche 5/52)
- Die Ernährungssouveränität kommt im Kisterl – ein Selbstversuch (Woche 6/52)
- Wirtschaften ist nicht auf Märkte beschränkt – ein Selbstversuch (Woche 7/52)
- Ouvertura – ein Experiment, von dem wir alle lernen können (Woche 8/52)
Titelbild: Peter Wendt, Unsplash