Das System Auto hat einen Totalschaden – mit Katja Diehl (Autorin, Podcasterin, Bloggerin)

„Wir beschäftigen uns in unserem stressigen Leben leider nicht damit, dass es eigentlich zum Totalausfall kommt, wenn das Auto nicht mehr da ist.“

Ohne Auto kein Kapitalismus. Erst mit der Erfindung und Vermarktung des Automobils war der Grundstein für den westlichen Wohlstand gelegt. Daraus ist ein System gewachsen, das uns nicht mehr gut tut. Trotzdem klammern sich Verantwortungsträger:innen noch immer an die Autoindustrie als „Schlüsselindustrie“, im Glauben, sie wäre weiterhin der Garant für unseren Wohlstand. Statt dem Verbrenner fördert man jetzt eben das E-Auto. Das eigentliche Problem bleibt aber der Individualverkehr an sich – und unsere unzureichende Vorstellungskraft in Richtung sinnvolle Alternativen.

In dieser Podcast-Folge spreche ich mit der Mobilitätsexpertin Katja Diehl, die das System Auto knallhart und mutig analysiert, Missstände aufdeckt und klare Anforderungen an die Mobilität von morgen stellt.

Mein Gast: Katja Diehl

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Katja Diehl hat in nur sechs Wochen ein Buch geschrieben – und was für eins. Es heißt Autokorrektur und handelt von unserer Mobilität. Der Autorin aus Hamburg geht es weniger um Fragen wie „Auto – ja oder nein?“, sondern um die gesellschaftliche Perspektive. Dabei wählte Katja einen spannenden Ansatz. In Interviews unterhielt sie sich mit unterschiedlichsten Menschen über Mobilität. Ihre Erkenntnis ist ernüchternd: Unsere Gesellschaft habe sich von der Automobilität abhängig gemacht und grenze damit eine Vielzahl von Menschen aus. Damit traf sie einen wunden Punkt, was neben vielen Unterstützer:innen auch zahlreiche Kritiker:innen auf den Plan rief. Schon wenige Wochen nach der Veröffentlichung wurde das Buch zurecht zum heißen Thema und Bestseller.

Heiß diskutiert wird auch auf Katjas Twitter-Account und mit SheDrivesMobility betreibt sie einen empfehlenswerten Podcast. Die Mobilitätsexpertin will die Art verändern, wie wir über Mobilität nachdenken. Dabei spricht sie mutig auch Probleme an, die viele Menschen gerade in einem Autofahrerland wie Deutschland eigentlich gar nicht hören wollen.

Das sind die drei Hauptpunkte

1. Das System Auto macht abhängig und grenzt aus

Katja Diehl entlarvt die Automobilität in ihrem brillanten Buch als System, das eine problematische Abhängigkeit schafft. Davon sind vor allem (aber nicht nur) Menschen betroffen, die auf dem Land leben. Indem sie bewusst das Gespräch mit Einzelnen suchte, gelang es der Autorin, etwas sichtbar zu machen, was wir häufig gar nicht wahrnehmen: „Ich habe die Leute gefragt: Kann ein Mensch ohne Auto oder Führerschein ein Leben führen? Die Antwort war oft ‚nein‘. Das ist nicht demokratisch.“ Mit Fragen wie diesen hat Katja Diehl die Menschen in ihren Interviews auch aktiviert. Plötzlich erkannten sie ihre Abhängigkeit und stellten sich vor, was eigentlich passieren würde, wenn sie krank werden, den Job verlieren oder das Auto nicht mehr funktioniert. „Wir beschäftigen uns in unserem stressigen Leben leider nicht damit, dass es eigentlich zum Totalausfall kommt, wenn das Auto nicht mehr da ist“, so die Mobilitätsexpertin.

Die Abhängigkeit vom Auto ist das eine, die Ausgrenzung das andere. Allein in Deutschland sind ca. 39 Millionen Menschen von der Automobilität ausgeschlossen, weil sie entweder (noch) keinen Führerschein haben oder sich das Autofahren nicht leisten können. Spätestens hier müssen die Alarmglocken läuten. Denn wir pumpen unser Steuergeld in die Automobilität, fördern mit der Pendlerpauschale sogar noch lange Arbeitsstrecken und übersehen dabei, dass ein großer Teil unserer Gesellschaft gar keinen Nutzen von den Investitionen hat. Als Folge entsteht ein System, das Machtverhältnisse schafft und spezielle Gruppen weiter an den Rand drängt.

2. Die Autogesellschaft ist ein Symptom für tieferliegende Probleme

Was Katja Diehl in ihrem Buch anspricht, ist hochpolitisch. Umso spannender ist ihre Herangehensweise, mit einzelnen Menschen, statt nur über sie zu sprechen. Da gibt es die alleinerziehende Anästhesistin, die das Auto braucht, um rechtzeitig im OP zu sein, weil statt der versprochenen Eisenbahnstrecke dann doch nur die Autobahn ausgebaut wurde. Oder die Rollstuhlfahrerin, die ihre Förderung für ein Moped mit Rampe nicht bekommt, obwohl ihr das wirklich helfen würde. Oder die Frau, die am liebsten einmal im Monat ein Öffi-Ticket bezahlen würde, damit sie die unkalkulierbaren Kosten des Autos endlich streichen kann. Katjas Interviewpartner:innen zeigen uns mit echten Lebensgeschichten, vor welchen Herausforderungen viele Menschen heute stehen.

Dabei geht es zwar immer um Mobilität, aber auch um sehr viel mehr. Um unsere Art zu arbeiten, die viele Arbeitnehmer:innen ins Auto zwingt. Um die fehlende öffentliche Infrastruktur. Aber auch um den Umgang untereinander, wenn zum Beispiel Frauen in öffentlichen Verkehrsmitteln angepöbelt werden, was auch Katja Diehl schon passiert ist. Sie sagt es klar heraus: „Ich denke, Mobilitätswende ist nur ein ganz dünner Lack. Darunter liegen aber alle ‚Isms‘. Sexismus, Rassismus, Feindlichkeit gegenüber Menschen mit Beeinträchtigung.“ Dieses Problem ist ganz klar ein männliches. Gelebte Diversität gibt es bisher nur in Hollywood-Produktionen.

Bemerkenswert ist, dass sich aus den Einzelinterviews ein gemeinsamer Nenner ableiten lässt: „Wenn du alle Leute aus meinem Buch zusammen hinstellst und dich fragst, was sie gemeinsam haben, dann kommst du drauf, dass sie eigentlich dieselben Wünsche an Mobilität haben: barrierearm, bezahlbar, inklusiv, gar nicht so digital, sondern menschlich“, erklärt Katja Diehl.

3. Wir müssen den Menschen zeigen, dass es anders geht

2021/22 sind in Deutschland 400.000 neue Autos hinzugekommen. Was oft als Erfolg der Industrie gewertet wird, lässt Katja Diehl nur den Kopf schütteln: „Das ist kein Erfolg der Industrie, sondern ein Versagen der Verkehrspolitik. […] Ich glaube, viele Menschen sehen nicht, wie groß das Problem ist.“ Aber wie können wir Mobilität besser gestalten?

Beispiele für ambitionierte Projekte gibt es bereits. In Paris, wo die Bürgermeisterin den Fluss Seine vom Autoverkehr befreit. In Bogota, wo es jetzt 40 km lange Bike Lanes gibt, damit die Menschen, die sich das Autofahren nicht leisten können, sicher unterwegs sind. Ich denke dabei auch an innovative Stadtplanungskonzepte wie die Superblocks in Barcelona. Die Menschen wollen dort nicht mehr weg, obwohl sich das anfangs niemand vorstellen konnte. Genau das ist der Punkt: Wir müssen den Leuten helfen, sich Alternativen vorzustellen. Katja Diehl sieht das ähnlich: „Wir brauchen da, wo soziale Brennpunkte sind, Reallabore, in denen man erlebt, was der Wandel eigentlich bedeutet.“

Dazu werden auch einschneidende Maßnahmen notwendig sein. Frau Diehl hätte da ein paar Ideen: „Der erste Schritt wäre, die Straßenverkehrsordnung beinhart durchzusetzen. Mehr Personal, Blitzer, Falschparker abschleppen und am besten auch die Bußgelder erhöhen.“ Dann endlich Gleichberechtigung etablieren, damit Autofahrer:innen nicht mehr wichtiger sind als Radfahrer:innen, Fußgänger:innen oder Rollstuhlfahrer:innen. Und auch das Förderwesen radikal überdenken: „Warum bekommen Leute Geld, die ein Auto kaufen? Warum belohnen wir nicht Leute, die CO2-arm unterwegs sind?“

Bei Vorschlägen wie diesen hört man schon den Shitstorm aufziehen. Doch mit etwas Vorstellungskraft ist völlig klar, dass daraus ein echter Mehrwert entstehen kann. Katja Diehl hat jedenfalls eine Vorstellung davon, wie „ihr“ Hamburg aussehen könnte: „Ich sehe Gardening, Bänke und Begegnung […] Ich möchte als Mensch, der in Hamburg wohnt, eine gute Lebensqualität haben und nicht in einer Stadt leben, die dafür konzipiert ist, dass Menschen schnell durchfahren.“

Hört einfach ‘mal rein, wenn ihr wissen wollt, was mit unserer Mobilität schiefläuft und wie wir einen Weg hin zu nachhaltigeren Alternativen finden. Ich freue mich über eure Kommentare!

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